Der Band ist zwar zweigeteilt, doch Speisen und Wein lassen sich eben nicht gänzlich voneinander trennen. Das merkt man etwa daran, dass auch im zweiten Teil, der dem „Deutschen Weinwunder“ gewidmet ist, das Fehlen von Sommeliers in den frühen Jahren des Hochgenusses thematisiert wird. In den 70ern, so Autor Daniel Deckers, besorgte selbst im Münchner Tantris weder Koch noch Sommelier die Weinauswahl zu den Gängen, sondern der Restaurant-Direktor. Und der hatte, so wie Deckers es darstellt, davon wenig Ahnung.
Weinwunder „viel zu unbekannt“?

Dass „die Metamorphose, die der deutsche Wein in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat“ „viel zu unbekannt“ sei, ist Ansichtssache. Deutscher Wein hat hierzulande in den beiden letzten Jahrzehnten immer einen Marktanteil von knapp 50 Prozent gehabt, völlig unbemerkt können die positiven Veränderungen wohl nicht geblieben sein. Auch sehr gut besuchte Events wie Mythos Mosel oder die – ebenfalls bereits im ersten Teil des Bandes beschriebene – Hinwendung auch der Spitzengastronomie zu heimischen Weinen sprechen eine andere Sprache. Auch dass es um die Wertigkeit des deutschen Weins vor den Weltkriegen schon einmal ganz anders bestellt war und diese mit Bordeaux und Burgund preislich locker mithalten konnten, ist nichts Neues.
Schleichender Niedergang

Viel Raum wird dem schleichenden Prestige-Verlust des deutschen Weins nach dem 2. Weltkrieg eingeräumt. Die Fresswelle mit der Vorliebe für süße und kräftige Weine war das eine, die sich entwickelnde technische Machbarkeit etwa zur Ertragssteigerung das andere. Dass das Weingesetz von 1971 den Zuckergehalt im Most als wichtigste Leitschnur für Prädikatsweine erklärte und die Öchslegrade dafür erstaunlich niedrig ansetzte, dass qualitativ unterschiedliche Einzel- zu Großlagen zusammengefasst wurden und damit die Transparenz für die Verbraucher stark litt: Wenig davon ist neu, aber womöglich in dieser Ausführlichkeit schon. Grundzüge davon liest man beim Autor bereits in seinem 2017 erschienen Bändchen „Wein. Geschichte und Genuss“.
Deckrotwein, Nasszuckerung, Glykol
Wer aber die Details ausbuchstabiert haben möchte, wird hier überaus fündig. Etwa dass 1930 bei „deutschem“ Rotwein ein Viertel aus anderen Ländern stammen durfte. Der Prozentsatz sank zwar mit der Zeit, aber selbst 1989 waren noch fünf Prozent erlaubt.

Oder wie der Glykolskandal nicht nur Österreich betraf, sondern auch deutsche Abfüller, was zu großem Vertrauensverlust in den Exportmärkten führte. Auch Dinge, dass „der Jahrgang 1986 dann wegen des Reaktorunfalls im damals sowjetischen Tschernobyl in Asien als »verstrahlt«“ galt und der Rheingau herbe Exportverluste in die Vereinigten Staaten zu verzeichnen hatte, dürfte nicht jeder (mehr) auf dem Zettel haben. Ebenso wenig extreme Währungsschwankungen: „Die starke Aufwertung des Dollar gegenüber der Mark ließ die deutschen Weine im internationalen Handel teurer werden.“ Allerdings dürften bei einer Aufwertung des Dollar deutsche Weine doch für in Dollar zahlende Kunden günstiger geworden sein.
„Tanz um das Goldene Barrique“

Auch das sehr bildhaft benannte Kapitel „Tanz um das Goldene Barrique – Das deutsche Rotweinwunder“ enthält einiges, das der heutige Leser verwundert zur Kenntnis nimmt. Nämlich dass die Vorstellung, Rotwein möge ein Holzfass von innen gesehen haben und unbedingt trocken sein, nicht vom Himmel gefallen ist. Und auch, dass die Stars von heute irgendwann angefangen haben: „1987 kehrte auch ein Winzer namens Bernhard Huber der örtlichen Genossenschaft den Rücken und machte sich am Rand des kleinen Dorfes Malterdingen selbständig – nur sechs Jahre später zählten seine im kleinen Eichenfass ausgebauten Spätburgunder zu den besten in Deutschland.“
Kleinere Fehler und Ungereimtheiten nimmt man bei diesem interessanten Thema in Kauf. Etwa dass Werner Näkel als Werner Meyer-Näkel, Gajas Barolo Sperrs als SuperTuscan oder Sassicaia als wuchtig bezeichnet wird.
Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) erfindet sich neu

Großen Raum nimmt Aufstieg und Neuerfindung des VDP ein. Hier hat der Autor sich in Protokolle und Archivmaterial genauestens eingelesen und Gespräche mit Zeitzeugen geführt.
Teilweise ist das sehr kleinteilig, aber insgesamt unbedingt lesenswert angesichts des heutigen Prestiges des Verbandes, der sich auf seiner Homepage als „qualitative Speerspitze des deutschen Weinbaus“ bezeichnet. Und auch angesichts der internationalen Wertschätzung der trockenen VDP-Spitzenprodukte, der VDP Großen Gewächse. Eine Erfolgsgeschichte, die aber eben nicht so geradlinig verlief, wie man heute meinen würde.
Klimawandel als Verbands-Retter

Überhaupt die heutige Vorliebe vieler Weintrinker für trockene Weine: Wenn man in die Geschichte schaut, in ein euphemistisch „Nassverbesserung“ genanntes Verfahren oder eben den Glykolskandal, der Weine süßer und kräftiger erscheinen ließ, versteht man besser das Misstrauen, das heute noch häufig nicht trockenen Weinen entgegengebracht wird.
Dass der Autor die Bemühungen um trockene Spitzenweine meist als ein Bedürfnis zur Begleitung von Speisen zeichnet, hat natürlich eine Berechtigung. Doch auch die Möglichkeiten, einen trockenen Wein solo genießen zu können, mussten wohl erst wieder geschaffen werden: „Immer mehr hatten den Glauben daran verloren, dass ein fine wine durch terroir und damit seine unverwechselbare Herkunft geprägt sein müsse und könne.

Das war durchaus verständlich. Denn in vielen Jahren wurden die Trauben einfach nicht so reif, dass man »Naturwein« – faktisch ein Synonym für Riesling – in hinreichender Menge und Güte erzeugen und von dessen Verkauf leben konnte.“ Interessant auch die These, dass dem VDP in seinen wilden Jahren – in den Neunzigern verließen 60 Betriebe den Verband, 70 neue kamen hinzu – „die beginnende Klimaveränderung in die Karten gespielt“ habe. Vielleicht wäre sonst die Geschichte des VDP anders verlaufen, denn die neuen Betriebe waren „zumeist solche, die sich den Qualitätsweinbau erst vor kurzem auf die Fahnen geschrieben hatten, wenn sie nicht überhaupt gerade erst gegründet worden waren.“ Voll ausgereifte Trauben waren in diesem Zusammenhang also sicher hilfreich.
Winzers Werk und Sommeliers Beitrag

Den „Beginn des Deutschen Weinwunders“ in den 1970ern zu verorten, als Feinschmecker „trockene Weine zu Speisen fordern“, erscheint nachvollziehbar, weil dadurch die Möglichkeit wegfiel, Fehler durch Zucker zu kaschieren. Der Druck, das Produkt in sich zu verbessern, Aromatik und Struktur sprechen zu lassen, war dadurch höher. Nicht vergessen darf man bei dieser Gleichung freilich, dass süß nicht gleich süß bedeutet, und der Glanz des deutschen Weins immer auch auf erstklassigen, nicht aufgezuckerten Süßweinen basierte. Aber tatsächlich steigerte sich allmählich die Nachfrage nach trockenen Weinen und damit auch der Geschmack der Menschen.

Dies sieht Deckers auch als Werk von Sommeliers. Besonders stellt er den Einsatz von Ralf Frenzel heraus, damals im Wiesbadener Restaurant Ente tätig. Sicher hat Deckers recht, wenn er die Rolle von Sommeliers beim Wiedererwachen des Qualitätsbewusstseins als zu wenig gewürdigt darstellt. Dass nicht nur „Frenzels Geschichte nirgends aufgeschrieben wurde“, sondern auch „das Leben und Wirken von Paula Bosch“, stimmt gleichwohl nicht ganz, hat Paula Bosch diese doch selbst aufgeschrieben, wenn auch mehr in Schlaglichtern denn als zusammenhängende Biographie („Eingeschenkt“, 2022).
Messe ProWein unterschlagen
Der zweite Teil des Bandes endet mit einem Hohelied auf die Mainzer Weinbörse, die der VDP seit über 50 Jahren abhält. Der Leser erfährt dabei interessante geschichtliche Veränderungen, etwa die einstige Übermacht restsüßer Weine dort, trockene standen zusammen mit Literflaschen und Rotweinen auf einem Extratisch! Oder dass man aus bereits benutzten Gläsern probieren musste. Beides ist heute völlig undenkbar.

Die wichtige Fachbesucher-Veranstaltung wird allerdings über die Maßen glorifiziert. Wenn es dann heißt, dass „ein vergleichbares Format wie etwa die alle zwei Jahre in Wien stattfindende VieVinum, die Vinitaly oder die Vinexpo in Bordeaux oder jüngst in Paris die deutsche Weinwirtschaft unter Führung des Deutschen Weinbauverbandes beziehungsweise des Deutschen Weinbauinstituts [gemeint ist wohl das Deutsche Weininstitut] bis heute nicht einmal im Ansatz ins Auge gefasst hat“, wundert man sich erheblich. Die „deutsche Weinwirtschaft“ hatte dies wohl schlicht nicht nötig, denn die Messe Düsseldorf hat ihr die Aufgabe abgenommen: mit der seit 1994 in Düsseldorf abgehaltenen Messe ProWein, die man trotz zuletzt schwächelnder Zahlen wohl noch immer als Weltleitmesse bezeichnen kann. Und auf der sich seit jeher auch viele deutsche Weingüter – nicht nur die des VDP – der internationalen Weinwelt erfolgreich präsentieren.
Fortsetzung folgt?

Doch auch die jüngere Vergangenheit kommt hier und da zu kurz. Etwa mit der Behauptung, dass „noch heute die mittlerweile sogenannten Winzersekte auf der Weinbörse nicht so präsent sind, wie es ihnen ob ihrer zum Teil herausragenden Qualität gebührte.“ Oder mit der „Kritik an der bis heute nicht aus der Welt geschaffenen bezeichnungsrechtlichen Möglichkeit, Weine unter dem Namen von sogenannten Großlagen auf den Markt zu bringen, die von den Namen von Einzellagen nicht zu unterscheiden sind und damit auf die Täuschung von Verbrauchern zielen.“ Denn zum einen gibt es seit nunmehr fünf Jahren das sogenannte VDP-Sekt-Statut und die Mainzer Weinbörse hat die letzten Male sogar eine Sonderverkostungszone eingerichtet, um diesen Produkten besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Und zum andern hat die Weinnovelle von 2021 den irreführenden Großlagen den Kampf angesagt und das unübersichtliche Segment der Qualitätsweine viel stärker an gestufte Herkünfte auch unterhalb des gesamten Anbaugebietes geknüpft. Dies gilt zwar verbindlich erst ab dem Jahrgang 2026, doch die Tage sind gezählt. Aber vielleicht ist all das auch Stoff für einen weiteren Band der Reihe „Kulinarische Ästhetik“!
Fazit
Erster Teil, Küchenwunder: Heute sind Edel-Restaurants etwas allgemein Akzeptiertes, auf das man stolz ist, und von wo man gerne Teller-Fotos postet. Der Weg dorthin, das zeigt Matzerath nachvollziehbar, war aber lang: eine eigene Stilistik zu finden und noch mehr, das entsprechende Selbstverständnis und die Akzeptanz aufzubauen, nicht zuletzt unterstützt durch Kritiker. Auch wenn die Huldigung Siebecks auch eine Nummer kleiner hätte ausfallen können.
Zweiter Teil, Weinwunder: Nicht alles ist neu, aber gut ist die detaillierte chronologische Darstellung der Veränderungsprozesse, die den deutschen Wein erst ab- und dann mühsam wieder aufsteigen ließen. Damit einhergehend die Wandlung des Geschmacks, insbesondere von süß zu trocken, für den auch Gründe greifbar werden. Die Geschichte des VDP wird interessant, aber vielleicht mit etwas zu viel Detailverliebtheit erzählt. Andere Top-Winzer kommen da zu kurz und andere wichtige Wein-Veranstaltungen auch.
Daniel Deckers, Josef Matzerath: Das Deutsche Küchen- und Weinwunder. Gourmandise in Deutschland, 1970-2025. Bielefeld 2025. 39 Euro.