Seit wann gibt es Restaurants und warum fassen Weinflaschen einen Dreiviertelliter? Peter Peters „Kulturgeschichte der französischen Küche“ ist am verblüffendsten dort, wo der Leser Antworten auf Fragen bekommt, die er sich noch nie gestellt hatte.
Alle Welt schwärmt vom Terroir. Beim Wein bedeutet das die Verbindung von Rebsorte, Boden, Klima und tradiertem Winzerwissen. Mit anderen Worten also das, was nur in einem begrenzten Landstrich in dieser Kombination existiert und nicht beliebig woanders imitiert werden kann. (siehe auch Geschützte Ursprungsbezeichnung) Das gilt entsprechend auch für Produkte wie Käse oder Schinken.
Doch der heute beseelte Terroir-Gedanke, von der EU und insbesondere von Frankreich gehegt und gepflegt, bedeutete nicht seit jeher die romantische Begeisterung für die Scholle irgendwo in der Provinz. So lieferten im 17. Jahrhundert, dem Grand Siècle, zwar alle französischen Provinzen und Kolonien ihre besten Produkte nach Paris und an den Hof von Versailles. In der Küche habe man daraus jedoch etwas völlig Neues geschaffen: Eine „cuisine nationale“ entstand und „der Begriff Terroir wurde ebenso wie Dialekt negativ besetzt“.
Kulinarische Führungsrolle seit dem Grand Siècle
„Vive la Cuisine. Kulturgeschichte der französischen Küche“ des Autors und Dozenten Peter Peter zeichnet den Aufstieg Frankreichs zur kulinarisch führenden Nation schlechthin auf. Während im Mittelalter noch Deutschland und Italien die führenden Kochnationen gewesen seien, hätte Frankreich Mitte des 17. Jahrhunderts unzweifelhaft die Führungsrolle übernommen. Der Streit der Alten und der Modernen (querelle des anciens et des modernes), den die Literaten zwischen antikem Vorbild und moderner Selbstfindung fochten, habe auch in der Kochkunst stattgefunden: Dort sei er zweifelsfrei für die Modernen entschieden worden. Die neue Kunst der Saucen, „Eigengeschmacksbetonung“ der Produkte, frische Gemüse, die Speisenfolge im Menü sowie der discours gastronomique – das alles bringt Frankreich die Bewunderung der ganzen Welt ein. Heute, so endet der Band mit einem Fragezeichen, scheine die Vorherrschaft Frankreichs auf diesem Gebiet zwar nicht mehr zwingend. Aber das „schichtenübergreifende gastronomische savoir-vivre“ scheint für Peter der Garant einer bleibenden Sonderstellung Frankreichs für den kulinarischen Diskurs.
Die Geburt des Restaurants
Besonders überzeugend in dem Band fallen die Momente aus, in denen der Leser mit Händen greifen kann, was Kulturgeschichte bedeutet. Dass eine Gabel im Restaurant vorgelegt zu bekommen, nichts Naturgegebenes ist, sondern erstmalig im legendären, 1582 gegründeten Pariser Tour d’Argent geschah. Und überhaupt das Restaurant, wie wir es in der heutigen Form kennen: Nicht nur wollten im Zuge der französischen Revolution auch die Nicht-Adligen endlich gehoben essen. Sondern vor allem waren die zahlreichen Hofköche gezwungen, angesichts des gewaltsamen Ablebens ihrer Arbeitgeber sich mit ihrem Know-how selbstständig zu machen. „So verdanken wir das Fortleben des Kulturerbes der französischen Hofküche einem Kind der Revolution.“ Apropos Revolution: Mit den Tagungszeiten der Nationalversammlung änderte sich auch die, heute noch gültige, Mahlzeitenfolge. Frühstück, Mittag- und Abendessen ersetzten das vorher (im Adel) übliche Modell einer leichten Mahlzeit am späten Vormittag und des ausführlichen dîner am Nachmittag. Auch dass der Teller fertig angerichtet aus der Küche getragen wird, geschah in Frankreich „vermutlich erstmals 1810“ und setzte sich auch wegen des „neuen Prinzips der égalité“ schnell durch.
Der Koch als Medienstar
Viel Platz nimmt logischerweise die Vorstellung der Köche und Kochbuchschreiber ein. So etwa „Herrschaftskoch“ Antonin Carême, von dessen Rezepten der Diplomat Talleyrand profitierte: Beim Wiener Kongress seien die von ihm gegebenen dîners hochbegehrt gewesen. Die Folge: „Nicht nur die Sprache der internationalen Diplomatie, sondern auch die der feinen europäischen Küche sowie der gehobenen Restaurantspeisekarte“ wurde Französisch. (siehe auch „Mit Wein Staat machen“)
Auguste Escoffier (1846-1935) wird dagegen als Modernisierer und „Übervater der französischen Küche“ dargestellt, „nach dessen Rezepten bis heute unterrichtet wird“. Außerdem habe dieser die „praktischen und theoretischen Grundlagen für die moderne Großküche“ geschaffen: Die Aufgabenverteilung rund um den Herd und die entsprechenden Begriffe wie sous-chef oder chef de partie gelten bis heute. Und natürlich darf in der Reihe auch ein Paul Bocuse nicht fehlen. Interessant ist, wie seine nouvelle cuisine durch den Autor zeitgeschichtlich mit der Aufbruchsstimmung der 1960/70er Jahre verbunden wird, die sich in Literatur und Film mit nouveau roman und nouvelle vague Bahn brach. Außerdem erscheint im Zeitalter der nouvelle cuisine die Geburt des Kochs als Medienstar, der aus der Küche heraustritt und sich selbst zur Marke erhebt, so wie es heute bei vielen Spitzenköchen verbreitet ist.
Warum ein Reifenhersteller Restaurants empfiehlt
Perfekt in dieses Gewebe von Antworten, deren Fragen man sich irgendwie noch nie stellte, gehört auch die Genese des bekanntesten Restaurant-Führers, des Guide Michelin. Ja, warum eigentlich besetzte ein Reifenhersteller diese Nische? Der erste Guide sei noch ein (kostenloses) Kompendium für den Automobilisten gewesen, dem man für seine Fahrten in die Provinz Karten und Adressen von Tankstellen und Werkstätten mitgab. Irgendwann – jeder Autofahrer muss auch essen – seien Restaurants dazugekommen. Diese seien zwar noch nicht durch das Sternesystem, jedoch insofern als gehoben klassifiziert gewesen, dass sie für den verwöhnten Pariser „als akzeptabel galten“. Als Modernisierer des Restaurantführersystems stellt Peter den Gault & Millau dar, der die nouvelle cuisine gastrojournalistisch und klassifizierend begleitete und promotete. Übrigens: Einher mit den Restaurantführern ging auch wieder die Wertschätzung der regionalen Küchen.
Die Geburt der typischen Weinflaschengröße
Und was ist mit dem Wein? Er lässt sich von der französischen Küche natürlich nicht trennen. Sowohl im laufenden Text selbst als auch in thematisch fokussierten Exkursen werden etwa Champagner, Cognac, Kir, Burgunder, Bordeaux thematisiert. So erfährt man, dass schon im 5. bis 1. Jahrhundert vor Christus Wein als „unentbehrliches Luxusgetränk“ fungierte und vor allem römische Veteranen im Languedoc den Weinbau „forcierten“. Manchmal, vielleicht auch bedingt durch die etwas vom Hauptstrang abgetrennten Exkurse, gewinnen die Darstellungen etwas Anekdotisches. So etwa, dass das Hinterland von Bordeaux über das Privileg verfügte, seine Wein-Ernte zuerst zu verkaufen. Um dies zu nutzen, sei viel, allerdings dünner Wein entstanden, den ein paar findige Holländer zum Brennen geeigneter fanden und so den Cognac auf den Weg brachten. Kein uninteressanter Fun-Fact, gleichwohl.
Gleiches gilt für das „adelsfreundliche Verbot des Gamay-Anbaus 1395“ in Burgund (das für die Bauern nämlich das Aufbauen einer auskömmlichen Existenz verhindert habe), das für die Profilierung der reinsortigen Spätburgunder-Weine aus besonderen Einzellagen beigetragen habe. Überzeugend ist auch die Berechnung, dass ein Barrique in Bordeaux 225 Liter fasse, da dies leer ein Arbeiter, voll zwei bewegen konnten und dessen Füllmenge etwa 50 englischen (bedeutender Absatzmarkt) Gallonen entspreche beziehungsweise 300 Flaschen à 0,75 Liter: Eine heute übliche Flaschengröße, die also nicht vom Himmel gefallen ist.
Der Wein spielt die zweite Geige
Dass der Wein nicht der Hauptaspekt dieses Buches und vielleicht auch nicht ganz das Hauptaugenmerk Peters ist, lässt sich anhand einzelner Ungereimtheiten vermuten. So greift er etwa bei der Frage, woher die Appellations-Bezeichnung Pouilly-Fumé ihren Namen hat, auf eine landläufige Erklärung zurück: weil er „in einem von Feuersteinen durchsetzten Terroir reift.“ Zum einen findet sich nur in kleinen Teilen des Anbaugebiets Feuerstein im Boden – und übrigens ebenfalls im Anbaugebiet Sancerre am anderen Ufer der Loire. (siehe auch Loire-Wein) Zum anderen werden im Anbaugebiet selbst, etwa im Informationszentrum „La Tour du Pouilly-Fumé“, andere Erklärungen präsentiert: Etwa der weiß-räuchrig aussehende Belag auf den Trauben zur Reifezeit.
Auch die Hypothese, „der genialste Coup des französischen Weinmarketings“ sei die Umbenennung der einfachsten Kategorie in „Vin de France“ gewesen, statt bisher vin de pays oder vin de table, ist in zweifacher Hinsicht unzutreffend. Zum einen erfolgte die Umbenennung 2009 aufgrund des vereinheitlichten EU-Weinrechts, das als einfachste Kategorie der neuen Qualitätspyramide „Wein“ verzeichnet. Bei französischem Wein ist das eben „Vin de France“. Zum anderen sind Tafelwein (vin de table) und Landwein (vin de pays) – nach der neuen Nomenklatur „Wein“ beziehungsweise „Wein mit geschützter geographischer Angabe“ – eben nicht ein und dasselbe, sondern Bezeichnungen für verschiedene Qualitätskategorien. Dem Band tut das aber keinen Abbruch: Die „Kulturgeschichte der französischen Küche“ ist ein informatives, faszinierendes und zugleich gut zu lesendes und mit tollen Fotografien illustriertes Werk, das die kulinarische Rolle Frankreichs in der Welt hervorragend in Szene setzt.
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Peter Peter: Vive la Cuisine. Kulturgeschichte der französischen Küche. München 2019. 22 Euro.