Wein Die große Schule von Jens Priewe Neuauflage 2024

Wein – Die Große Schule: lesenswert?

Das bekannte Übersichtswerk „Wein – Die große Schule“ von Jens Priewe ist in einer Neuauflage erschienen. Was kann der voluminöse Band?

Wein – Die Große Schule Besprechung Weinbuch
„Alle mögen Wein“?

„Alle mögen Wein,“ heißt es gleich zu Beginn des kiloschweren Bandes „Wein – Die große Schule“, der nach sieben Jahren rundumerneuert erschienen ist.  Ob das so ist, muss bezweifelt werden, sinkt der Weinkonsum doch in vielen klassischen Weinländern. Aber für die Leserschaft stimmt die Aussage sicherlich. Sollten diejenigen, die Wein mögen, sich also das opulente Werk ins Regal stellen?

Wer die „alte“ Ausgabe schon besitzt, muss schon Enthusiasmus mitbringen, um das zu tun. Man muss die Neuerungen suchen, die manchmal in einer hinzugekommenen Doppelseite (etwa „Stilikonen, Mythen, Benchmark-Weine“), Vertiefungen (zum Beispiel zum Rosé) mitunter aber auch nur in anderen Formulierungen (beispielsweise beim französischen Jura) oder leichten Aktualisierungen liegen (etwa bei der „Weltweinproduktion nach Kontinenten“).

Gegenentwurf zur digitalen Häppchendarstellung
Weinbuch Wein Die Große Schule überarbeitet 2024
Ohne losen Umschlag: Wein – Die Große Schule.

Doch allein angesichts solcher Ergänzungen wird klar, dass die „Große Schule“ durchaus einen gewissen enzyklopädischen Anspruch hat. Und diesen kann man tatsächlich nur mit gelegentlich überarbeiteten Neuauflagen aufrecht erhalten. Gleichzeitig wird eine Leserschaft bedient, die nicht nur einzelne Häppchen im Internet nachschlagen möchte, sondern aufwändige redaktionelle Arbeiten und ein haptisches Erlebnis schätzt. Zusammenhängende Texte zur kulturellen Praxis, zur Herstellung, zu den Herkunftsregionen einerseits, illustrierende und informierende Bilder und aufbereitete Grafiken und Landkarten andererseits. Das Ganze im Coffeetable-Format: Gerade in Zeiten von durch KI schnell zusammengestückelten Texten auf kleinen Smartphonebildschirmen ist diese Art des Lesens und Betrachtens ein wahrer Luxus.

Enzyklopädisch heißt aber nicht, dass der Autor völlig hinter die Informationsvermittlung zurücktritt. Zwar geht „Wein – Die große Schule“ insgesamt beschreibend-erklärend vor, doch finden sich auch dosiert persönliche Ansichten. Alkoholfreiem Wein etwa widmet Priewe auch einige Zeilen, vor allem um klarzustellen, dass er dieses immer wieder zum Trend ausgerufene Lifestyle-Produkt nicht als Wein betrachtet: „Braucht Wein unbedingt Alkohol? Ja, Alkohol ist ein Geschmacksträger und intensiviert das Aroma.“

Wein und Gesundheit
Leere Weinflaschen am Straßenrand
„Sehr selten bis zum Rausch getrunken“?

Auch der zunehmend kritischen Diskussion über die gesundheitlichen Aspekte tritt der Autor skeptisch gegenüber: „Unter allen Genussmitteln ist Wein das gesündeste“. Er wird gewissermaßen als Anwalt des vergorenen Traubensafts greifbar, dem er hier schließlich 336 Seiten gewidmet hat, wie man an dem eingangs erwähnten Postulat „Alle mögen Wein“ unschwer erkennen kann. Als Belege  behauptet er Schwachstellen („Die Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und Krebs basieren ausschließlich auf Statistiken“). Auch der Hysterie um Schwefel begegnet er gelassen („Tatsächlich sind Schwefelallergien laut klinischen Studien extrem selten.“) Hier findet sich auf jeden Fall eine Stimme, die sich dem Zeitgeist auch einmal kritisch entgegenstellt.

Durchaus sind seine Thesen mitunter auch fragwürdig, etwa wenn er behauptet, dass Weinkonsum sozusagen eine eingebaute Mengenbegrenzung habe, da er „zeitlich auf die Spanne des Essens begrenzt“ sei und „sehr selten bis zum Rausch getrunken wird, auch weil er teurer ist als die meisten anderen alkoholischen Getränke“. Aus seiner Perspektive, die Wein als Genussmittel in einem bestimmten soziokulturellen Umfeld begreift, mag das vielleicht stimmen. Aber ob die leeren Weißweinflaschen, die man sonntagmorgens oft zuhauf am Wegesrand sieht, auch in solch einem kulturell abgesicherten Kontext geleert wurden?

Wie viel muss ein guter Wein kosten?
Zweiliterflasche Wein Kunststoff
Was dieser Wein wohl kostet?

Apropos teurer als andere Alkoholika: In diesem Zusammenhang wird auch über Preise gesprochen und die oft diskutierte Frage über dessen Angemessenheit gestellt. „Schlechte Weine kann man am Preis erkennen, gute nicht unbedingt.“ Wohl wahr. Wie der Autor aber auf genau 7,90 Euro für „ein Minimum an Qualität“ kommt, bleibt sein Geheimnis. Werden Standpunkte eingenommen, sollten sie doch auch nachvollziehbar sein. Wenn es heißt, dass „südspanische, süditalienische und algerische Rotweine häufig nur zum Verschneiden gut sind“, wundert man sich mindestens mal über die  Zusammenstellung. Oder der Tipp, als es ums Dekantieren geht: „Mutig, aber mit Vorsicht“ – wie soll man das verstehen? Auch das gewählte Vokabular jenseits des Standards weiß nicht immer zu überzeugen. Die im Vorwort erwähnte „Trinkfreundlichkeit“ von Weinen lässt allenfalls erahnen, dass dies das Nomen zu dem durch die Weinwelt mäandernden Adjektiv trinkig darstellen soll. Oder wenn es heißt, die Zunge könne auch die „Textur (z.B. Fettigkeit) eines Weins wahrnehmen“. Fettigkeit?

Klaus Peter Keller Hipping Pettenthal Schubertslay
„Fabelhaft, aber nicht historisch“?

Dass die Weine, die „Geschichte geschrieben“ haben, die gleichen sind wie in der Ausgabe von 2017 und mit Viñedo Chadwick und dem Jahr 2004 enden, wirkt etwas überraschend. Ist denn in der Zwischenzeit gar nichts passiert, etwa mit den superbegehrten Weinen vom rheinhessischen Weingut Keller, die großen Anteil daran hatten und haben, den Blick der Welt zurück auf deutschen Riesling zu lenken? Kellers G-Max erscheint tatsächlich beim Umblättern auf der nächsten, neu hinzugekommenen Doppelseite („Stilikonen, Mythen, Benchmark-Weine“), und wird als „fabelhaft, aber nicht historisch“ bezeichnet. Ebendort wird Biondi-Santi gewissermaßen als Erfinder des Brunello im 19. Jahrhundert vorgestellt. Ist auch das nicht historisch?

Wo bleibt die Weinrechts-Novelle?
Lage Verschnitt Wein
Roter Berg: Kann, muss aber nicht komplett.

Manchmal vergisst der Autor, was für den geneigten Leser vielleicht nicht Alltagsvokabular ist, etwa der Begriff Chaptalisierung, also das Aufzuckern des Mostes. Bisweilen wird eine Erläuterung im weiteren Verlauf des Buches nachgereicht, bei der ersten Erwähnung wäre diese hilfreicher gewesen. Oder er vergisst bei einem Aspekt einen doch zwingend dazugehörigen Punkt. Bei den in der Europäischen Union erlaubten Verschnittarten werden zwar Jahrgangsverschnitt und Rebsortenverschnitt genannt. Wenn man erfährt, dass nur 85 Prozent der Trauben zu Jahrgangs- oder Rebsortenbezeichnung auf dem Etikett passen müssen, erführe man natürlich auch gerne, dass dies auch für angegebene Regionen, Ortschaften oder Lagen unterhalb einer Geschützten Ursprungsbezeichnung zutrifft. Wie es mit dem Bezeichnungsrecht in Deutschland spätestens ab 2026 aussehen wird – unter anderem dürfen aus jeder Lage theoretisch Erste und Große Gewächse gekeltert werden -, erfährt man nicht, obwohl die zugrundeliegende rechtliche Novelle aus dem Jahr 2021 stammt. Hat man sich hier einen Anlass für die nächste Auflage von „Wein – Die große Schule“ aufgehoben?

Auch aktuelle Diskussionen vermisst man mitunter zumindest als Randüberlegung. Dass nur „wenige Grundsätze im Weinbau so uneingeschränkt gelten wie das Menge-Güte-Gesetz“, also je weniger Trauben, desto höhere Qualität, beginnt die Forschung  in Zeiten des Klimawandels zu hinterfragen. Schließlich verlängert ein größerer Traubenbehang auch die Reifezeit, was der Aromenausbildung zugute kommen und den steigenden Zucker- und damit Alkoholwerten entgegenwirken kann.

Ungewohnte Einteilung der Aromen
Barrique Holzfass Wein Ausbau
Barrique: Für Sekundär- oder Tertiäraromen verantwortlich?

Einen Aspekt der Weinwelt einmal anders zu ordnen ist natürlich erlaubt und kann ausgetretene Pfade infrage stellen. Der Autor praktiziert dies etwa bei der Einteilung des Weinbouquets in Primär-, Sekundär- und Tertiäraromen. Während man in der aktuellen Literatur Sekundäraromen meist als vom Ausbau stammend darstellt – also etwa Zeder- oder Vanillearomen vom Ausbau im kleinen Holzfass -, versteht der Autor während der Gärung entstehende Noten darunter.  Es darf überlegt werden, wie sinnvoll das ist, denn so wird der Topf der Primäraromen verschwindend klein. Gleichzeitig wird der der Tertiäraromen riesig groß und differenziert nicht mehr zwischen kurzen Lagerzeiten im Holzfass, die etwa zu Zederaromen, oder langen Reifezeiten auf der Flasche, die etwa Noten von Leder oder Backpflaume hervorrufen können. Doch dann heißt es im weiteren Verlauf: „Der größte Teil [der Primäraromen] ist aber an Zuckermoleküle (Glycoside) gebunden. Sie werden während der Gärung aufgespalten und sind erst dann sensorisch wahrnehmbar.“ Damit widerspricht der Autor sich selbst und man bleibt doch besser bei der landläufigen Einteilung.

Nordmazedonien Weingut
Familienweingut in Nordmazedonien.

Das Herzstück des Buches ist der Teil „Die Weinländer der Welt“. Hier kann man stundenlang blättern und Grundlegendes zu den hierzulande bekannten und weniger bekannten Weinländern – wie China, Japan oder Brasilien – erfahren. Dem Text werden nicht nur schöne veranschaulichende Fotos beigestellt, sondern auch viele beschriftete Karten von Anbaugebieten, die informativen, aber auch auflockernden Charakter haben bei sechs Spalten pro Doppelseite, die aber selten alle für Text genutzt werden. Auch einige Grafiken, etwa zu den europäischen Klimazonen oder der Thermik im Weinberg, hat man selten so eingängig gesehen.

Wein Albanien
Albanische Weinflaschen.

Bei manchen kleineren Weinbau-Ländern beschränkt sich das Update allerdings nur auf die Anpassung einzelner Zahlen. Aber etwa in vielen Staaten des westlichen Balkan hat sich enorm viel getan. Dass Serbiens Weine „größtenteils als Verschnitt in zahlreiche Markenweine und internationale Handelsabfüllungen“ eingehen würden, kann man als überholt betrachten, auch dass „ein großer Teil in der lieblichen Geschmacksrichtung hergestellt“ werde. Der Trend zu Qualität und Regionalität ist absolut spürbar und Belgrad feiert mit der Messe Wine Vision by Open Balkan seit 2022 jährlich die Wein-Identität der Region. Auch in Nordmazedonien („die Weinproduktion ist immer noch Sache großer Kellereien“) oder Albanien (aus den einheimischen Sorten „werden einfache Bauernweine gemacht“) hat sich vieles positiv verändert. Die Überschrift des kurzen Kapitels wurde zwar von „Heißer, unbekannter Balkan“ aus der alten Ausgabe in „Südosteuropa – unbekannter Balkan“ umbenannt. Vielleicht hätte man besser das Wort „unbekannt“ abändern sollen.

Glossar nicht aktuell
Weißherbst Etikett Baden
Kann, muss aber nicht roséfarben ausfallen: Weißherbst.

Im Vergleich zur letzten Ausgabe finden sich nicht nur zarte Erweiterungen, zwölf Seiten sind insgesamt hinzugekommen, sondern auch Verbesserungen, etwa hinsichtlich der weinrechtlichen Regelungen. Umso mehr stutzt der Leser, dass man diese Anpassung im Glossar vorzunehmen offenbar vergessen hat. Dort findet sich noch immer ein überholter französischer Klassifizierungsausdruck  („VQPRD“), der „künftig nur als Wein mit geschützter Ursprungsbezeichnung (g.U.)“  bezeichnet werde: Das gilt seit über zehn Jahren! Hier scheint keiner mehr durch die Begriffe geschaut zu haben, auch die Erklärung von Weißherbst im Glossar ist nicht zutreffend („in Deutschland übliche Bezeichnung für Roséweine“). Weißherbst folgt aber anderen rechtlichen Regelungen und muss nicht mal roséfarben ausfallen. Und die Bezeichnung Diabetikerwein ist seit 2007 auf Etiketten verboten.

Neuseeland
Wird natürlich auch vorgestellt: Neuseeland.

Insgesamt ist „Wein – Die Große Schule“ ein opulenter Band, den jeder Weinfan gerne im Regal stehen hat und immer mal zum Nachlesen und Schmökern herausholt. Die Neuausgabe unterscheidet sich etwas von der letzten und das Ansinnen wird insgesamt greifbar, mit der sich wandelnden Weinwelt Schritt zu halten. Dass der Autor sich auch einmal mit Positionen aus dem Fenster lehnt, ist richtig und wichtig, man muss ja nicht immer gleicher Meinung sein. Einige Ungereimtheiten muss man zwar in Kauf nehmen, was bei einem solchen Volumen und dem komplexen Miteinander von Autor, Bildredaktion und Grafikern selten ganz vermieden werden kann. Was bleibt, ist aber eine gelungene Überblicksdarstellung.

Jens Priewe: Wein – Die große Schule. München 2024. 39 Euro.

(„Wein – Die große Schule“ im Vergleich mit zwei weiteren Weinbüchern finden Sie hier.)

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